Ich könnte vor Geilheit platzen, 2004
Der Saarländer und der Rest der Welt, 1994
Weiße Welt, 2004
Määlknäppcher, 1993
Hänsel und Gretel, 2003
Unterwegs, 2005
Unverhoffter Besuch, 2000
Heiß und kalt, 2009

                                     
 
 
 
Ich könnte vor Geilheit platzen

Vor Geilheit platzen, könnte ich das? Ich will das überhaupt nicht! Selbst wenn ich es könnte.

Eine geplatzte Frau ist ganz bestimmt nichts Schönes. überall diese hässlichen Flecke. Und außerdem, was hätte ich als geplatztes Etwas denn noch von Geilheit? Nichts. Absolut nichts!

Damit wäre die Angelegenheit mit dem Platzen schon geklärt. Bleibt noch die Geilheit. Also, zu meiner Jugendzeit nahm man dieses Wort überhaupt nicht in den Mund. Es berührte doch die Pfui-Zone. Man dachte vielleicht darüber nach und wurde rot dabei. Mehr auf keinen Fall! Das wünschten sich die Eltern von ihren wohlerzogenen Töchtern.

Mit der Wohlerzogenheit war das damals so eine Sache. Wir kannten den Spruch: "Brave Mädchen kommen in den Himmel, die anderen kommen überall hin." Ach, die Welt ist doch so herrlich bunt. Wir tanzten nicht nur Twist und Blues. Irgendwann nahmen wir das Wort "Geilheit" in unser verschämtes Vokabular auf und adelten die Pfui-Zone.

Was macht die Jugend heute? Sie hat das Wort "geil" in die Umgangssprache übernommen. Aber wie! Das Handy ist geil. Der Game-boy ist geil. Das neue Montainbike ist geil. Die Turnschuhe sind geil. Das blonde Mädchen mit den Beinen so lang bis in den Himmel ist geil.... ?????

Was haben die bloß aus unserer schönen Sprache gemacht! Da könnte ich doch glatt ... vor Geilheit platzen.


                                     
 
 
 
Der Saarländer und der Rest der Welt

Es stimmt schon: Die Welt hat es nicht einfach mit dem Saarländer. Er will sich zwar überall anpassen, aber … Ob er dort auch wirklich hinpasst? Nirgends ist es so schön, nirgends schmeckt es so gut, nirgends sind die Leute so freundlich wie dehäm. Wen wundert es da, wenn sich alle Welt fragt, warum dieser komische Typ nicht gleich zu Hause geblieben ist? Wäre er ja auch gern! Der Saarländer hat halt mit einigen Problemen zu kämpfen, die er in seiner geliebten Heimat nicht immer lösen kann. Und so zieht er hinaus in die große, weite Welt mit einem großen, weiten Herzen und versteht nicht, warum ihn keiner versteht.

Ich weiß, wovon ich spreche! Habe siebenundzwanzig Jahre außerhalb des Saarlandes gelebt. Als ich mit achtzehn in die Aachener Gegend zog, hatte ich ehrlich vor, nicht nur meinen Mann und seine Familie, sondern auch meine neue Heimat zu lieben. Mit allem, was dazu gehört. Wollte ich! Doch mein jugendlicher Überschwang wurde schnell gebremst. "Lerne erst mal richtiges Deutsch, du Saarfranzose", bekam ich als Antwort zu hören.

"So ist das also", dachte ich. "Wenn ein Bayer 'Jo mei' sagt, ist das Bayrisch. Wenn ein Hamburger von einer 'lütten Deern' spricht, ist das Friesisch. Aber wenn ein Saarländer von 'Krombeersopp on Quetschekuche' schwärmt, kann er kein Deutsch." Und allmählich wurde ich wütend.

Ich ärgerte mich über die Vermessenheit, der ich so oft begegnete. Für Unwissende und Träumer von Dehäm: Wir Saarländer gehören bei vielen Mitdeutschen in die Bundesländer-Schublade ganz unten – weit außen – wenn wir Glück haben. Denn es gibt immer noch Menschen, die nicht wissen, ob das Saarland zur Bundesrepublik Deutschland oder zu Frankreich gehört. Selbst wenn man uns kennt, sehr beliebt sind wir nicht!

Belächelt werden wir, das ja, ist ja auch verständlich. Denn wir sind ein Volk ohne Charakter! Das wollte man mir weismachen. Die Saarländer hätten ihr Fähnchen immer nach dem Wind gehängt, je nachdem, ob er von Deutschland oder von Frankreich günstiger wehte. Dabei weiß doch jeder, dass die Obrigkeiten Kriege führten und Grenzen verschoben, wie es ihnen in den Kram passte, und sich einen feuchten Dreck drum scherten, ob es den Menschen in diesen Landstrichen gefiel. Der Unterschied zwischen den Menschen an der Saar und den Grenzbewohnern im deutsch-belgisch-holländischen Dreiländereck besteht vielleicht darin, dass wir nach dem letzten Weltkrieg selber abstimmen durften, wo wir in Zukunft hingehören wollten. Für die Saarländer gab es auf diese Frage eine klare Antwort: Zurück nach Deutschland! Der Saarländer hat sich immer als Deutscher gefühlt. Er kann doch nichts dafür, dass die Franzosen bei jeder Gelegenheit sein Land besetzt haben! Wie sollte sich das kleine Saarland gegen das große Frankreich wehren? Es hat sich halt an die jeweilige Obrigkeit angepasst. Überlebenstraining nenne ich das, und ich will nicht einsehen, dass bei uns 'charakterlos' sein soll, was anderswo den 'europäischen Gedanken' verrät.

So ist das, wenn sich Werte verschieben. Früher galt das Saarland noch etwas. Das Land, bitte, die Menschen interessierten weniger. Und der Saarländer mit seinem hehren deutschen Heimatgefühl hat es nicht einmal gemerkt. Das Land auch nicht wegen seiner Schönheit, sondern allein wegen seines Reichtums: Kohle und Stahl hatten Wert, und den durfte man nicht den Nachbarn überlassen! Ganz so weltfremd ist der Saarländer nicht mehr. Er hat inzwischen mitbekommen, dass mit dem Wertverfall von Kohle und Stahl auch der Willkommensgruß im übrigen Deutschland immer leiser wurde. Wie heißt das so schön? "Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, ...." Statt Einigkeit und Recht und Freiheit, das Gefühl als Klotz am Bein der ach so gerechten Bundesrepublik. Verschrien als Hungerleider-Bundesland.

Ich glaube, der Adenauer hatte das geahnt. Er wollte uns ja verscherbeln. Manches Mal denke ich - immer wenn dieses blöde Klotz-am-Bein-Gefühl von den Medien aufgeschreckt wird - die Politiker hätten damals auf Adenauer hören sollen. Dann gehörten wir heute politisch wahrscheinlich zu Frankreich. Wären in der Beliebtheitsskala garantiert auch so gesunken wie der Marktwert von Kohle und Stahl. Aber mit einem tröstlichen Gedanken: Die Franzosen könnten uns nicht wirklich kränken. Für sie wären wir Ausländer geblieben. Wie auch sollten sie das Anhängsel von der Saar mit fremder Sprache und Kultur verstehen?


                                     
 
 
 
Weiße Welt

Vier Winter wohnte ich nun schon in dieser Stadt. Vier lange Winter, die keine waren. Vier mal hatte ich bereits das Weihnachtsfest hier gefeiert, mit meiner neuen Familie und mit den beiden Kleinen, die gut heranwuchsen. Doch ohne Schnee. Sicher, es schneit auch hier in der Aachener Region. Der Schnee bleibt selten liegen und verwandelt sich in den Städten schnell zu Matsch. Ich vermisste den herrlichen weißen Schnee des nördlichen Saarlandes. Die Bäume mit ihren Schnee beladenen Ästen, die Häuser mit den Schneehauben, die klirrende Kälte, die Eiszapfen an den Dachrinnen. Die ganze Palette einer winterlich verzauberten Welt. Verdammt, ich hatte Heimweh.

Mein Mann kannte meine Heimwehphasen und verstand sie.
"Warte nur, irgendwann haben wir ein Auto, und dann können wir nach Hause fahren, wann immer du willst", tröstete er mich.

"Komm, ich zeige dir etwas",rüttelte er mich eines Nachts um 2.30 Uhr wach. Was hatte ihn nur dazu bewegt, mich mitten in der Nacht zu wecken? Neugierig stand ich auf und folgte ihm zum Flurfenster. Was ich sah, konnte ich kaum glauben: Es schneite, wie eine weiße Wand fielen die Flocken vom Himmel.
"Gehen wir?" fragte Erwin.
Ein Blick ins Kinderzimmer, die Kleinen schliefen tief und fest. Leise kleideten wir uns an. Was ihn geweckt hätte, wollte ich wissen.
"Es war so still."
Sanft zogen wir die Haustür hinter uns zu.

Eine weiße Welt umfing uns. Straßen, Bürgersteige, Gärten gab es nicht mehr. Nur Weiß, von schlafenden Häusern eingerahmt. Und es schneite noch immer. Dicke Flocken fielen vom Himmel und schluckten jedes Geräusch. Ich konnte die Stille spüren. Mit ausgebreiteten Armen schritt ich mitten hinein in diese weiße Welt, hielt mein Gesicht nach oben und fühlte jede einzelne Schneeflocke auf meiner Haut zergehen. Bückte mich, nahm eine Handvoll Schnee auf und probierte davon. Oh, er schmeckte genau so köstlich wie der Schnee in meiner Heimat.

"Komm." Erwin reichte mir die Hand. Zusammen wanderten wir hinaus aus dem Ort, dahin, wo keine Häuser störten. Schweigend erreichten wir die Felder, blieben stehen und schauten. Irgendwo mussten Straßenlaternen brennen. Ihr Licht drang nicht bis zu uns heran. Es gab nur uns und unsere Spuren im Schnee. Und tief in mir brannte Heimweh.


                                     
 
 
 
Määlknäppcher

Jeder Saarländer kennt sie, diese unförmigen Klöße aus Mehl, Wasser, Eiern und Salz. Sie werden mit Bratkartoffeln serviert, heißen dann auch "Verheiratete". Man reicht dazu, je nach Geschmack, Apfelmus, Salat oder Rote Beete. Und mitten auf den Tisch gehört für diejenigen, die es herzhafter lieben, die Flasche Maggi. Kurzum, Määlknäppcher sind ein kulinarischer Hochgenuss, bei dem sich dem Feinschmecker die Haare sträuben.

Damit mich keiner falsch versteht, ich habe nichts gegen Määlknäppcher, esse sie manchmal ganz gern. Aber dass diese unscheinbaren Dinger wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen, das geht zu weit!

Dabei fing alles so harmlos an. Weil wir zu Hause sieben Personen, die Geldscheine deshalb stets knapp waren, gehörten Määlknäppcher zum festen Speiseplan. (Sie machen pappsatt, Mehl war billig, Kartoffeln und Äpfel gab es reichlich aus eigener Ernte.) Als Mutter wieder einmal besonders arg von Gelenkrheumatismus geplagt wurde, bat sie mich - ich war ungefähr zwölf Jahre alt - das Kochen zu übernehmen.

Genau nach Mutters Anweisungen bereitete ich die Määlknäppcher zu. Schlug den Teig mit einem Rührlöffel, bis er Blasen warf und meine Arme schmerzten. Gab kleine Teigmengen mit einem Esslöffel in kochendes Salzwasser und schaute fasziniert zu, wie die Klöße im Topf hochstiegen und ihre bizarren Formen annahmen. Darüber wären mir fast die Bratkartoffeln angebrannt. Schließlich konnte ich mein erstes, selbst zubereitetes Mittagessen servieren: eine Schüssel voll dampfender Määlknäppcher, appetitlich angerichtet mit zerlassener Margarine, gebratenen Speckwürfeln und gerösteten Brotkrumen, dazu knusprige Bratkartoffeln und süßes Apfelmus.

Die Familie sparte nicht mit Lob. Kein Wunder, schließlich aßen wir seit langer Zeit wieder einmal mehlklumpenfreie Klöße. Ich freute mich über die Anerkennung, ich dummes Kind, ahnte ich doch die Folgen nicht. Denn nun fiel die Zubereitung dieser Speise in mein Ressort. Bis ich achtzehn Jahre alt war.

Dann heiratete ich, zog nach Aachen, neugierig auf die große, weite Welt und weit entfernt von allen Määlknäppchern dieser Erde. Dachte ich. Als ich drei Monate nach der Hochzeit mein Elternhaus besuchte, rief mein behinderter Bruder mit leuchtenden Augen:
"Gelle, Monika, jetzt gibt es Määlknäppcher." So geschah es dann, und so blieb es: Bei jedem Besuch kochte ich einmal Määlknäppcher. Bis mein Bruder nach sechzehn Jahren starb.

Doch damit waren die Määlknäppcher noch immer nicht vom Tisch. Ich habe noch mehr Brüder. Einer von ihnen zog irgendwann in meine Nähe und lud sich regelmäßig zum Määlknäppcher-Essen ein. Zuerst glaubte ich, die Vorliebe für dieses Armeleuteessen hätte ihre Ursache in Kindheitsträumen, Heimweh und so. Aber warum freuten sich unsere Kinder, wenn dieses Gericht aufgetischt wurde? Sie sind schließlich keine Saarländer *, und unsere Jugenderinnerungen an schöne, aber entbehrungsreiche Zeiten teilen sie auch nicht.

Seit einigen Jahren lebe ich wieder im Saarland. Unsere Kinder, mittlerweile erwachsen, wohnen etliche Kilometer von uns entfernt. Da ist die Freude groß, wenn sie uns besuchen. Beim letzten Familientreffen war ich schockiert. Da wünschte sich die Freundin unseres Sohnes zu Mittag "diese komischen Mehlklöße, von denen der Dietmar immer erzählt". Tochter und Sohn stimmten begeistert zu, Opa nickte heftig. Nur unser Schwiegersohn meldete Zweifel an. Er wusste mit diesem Traummenü nichts anzufangen.

Natürlich gibt es bei uns, wie in jedem saarländischen Haushalt, ab und an Määlknäppcher. Aber am Sonntag??? Mein Mann zuckte die Schulter. Der schöne Sonntagsbraten wanderte in die Tiefkühltruhe und auf den liebevoll gedeckten Mittagstisch stellte ich Määlknäppcher, Bratkartoffeln, Apfelmus, Rote Beete und die Flasche Maggi. Und wünschte ein klein wenig boshaft einen guten Appetit.

Allen hat es geschmeckt. Da gestand die Tochter:
"Du, Mutti, ich hab's auch probiert. Aber irgendwie schmecken die Määlknäppcher bei mir nicht richtig. Dabei nehme ich die gleichen Zutaten wie du. Sag doch, was machst du mit dem Teig?"

Diese Frage überraschte mich. Nichts mache ich mit dem Teig. Oder lassen die Erinnerungen, die mir beim Teigschlagen so zahlreich in die Schüssel purzeln, meine Määlknäppcher zu etwas Besonderem werden? Ich weiß es nicht. Etwas jedoch weiß ich endlich: Määlknäppcher werden in meinem Leben ihren Platz behalten.


                                     
 
 
 
Hänsel und Gretel

Schön war die neue Wohnung meines großen Bruders. Gerade richtig für zwei Frischverliebte. Dass noch Kisten herumstanden, störte meinen Mann und mich nicht. Sie gehören bei einem Umzug dazu.
"Warte mal, Monika, ich zeige dir etwas", rief mein Bruder plötzlich und kramte in einer Kiste.
"Das ist mir jetzt wieder in die Hände gefallen." Er reichte mir ein Buch.

Alt war es, abgegriffen. Sofort erkannte ich es:
"Mein Märchenbuch!" Auf dem dunkelgrünen Umschlag Hänsel und Gretel, in der Hand ein großes Stück Lebkuchen.
"Nein, mein Märchenbuch!"
"Aber ich habe daraus vorgelesen."
"Und ich habe die Bilder gemalt. Na gut, ist es halt unser Märchenbuch. Aber du bekommst es nicht, das sage ich dir gleich."
"Ach", mischte sich mein Mann in unser Streitgespräch, "das ist also das geheimnisvolle Buch, von dem du immer erzählt hast?" Ich nickte.
"Joachim, pass gut darauf auf, hörst du?"
Mein Bruder versprach es und packte das Buch wieder weg. Schob den Karton in die allerhinterste Zimmerecke.

Auf der Heimfahrt war ich ziemlich schweigsam. Da meinte Erwin:
"Frau, schlag dir das Buch aus dem Kopf. Joachim sitzt darauf wie ein Geier. Du bekommst es nicht."

Wie oft habe ich an dieses Buch gedacht. Immer, wenn ich ein Märchenbuch in der Hand hielt, wanderten meine Gedanken zurück.

Fünf und sechs Jahre alt waren Joachim und ich, als Mutter uns ihr altes Märchenbuch geschenkt hatte. Zuerst haben wir nur die vielen Bilder angeschaut und erzählt. Irgendwann fingen wir an, darin zu lesen. Eigentlich war nur ich es, die daraus vorgelesen hat. Meinem Bruder war die Sütterlinschrift zu mühevoll. Lieber hat er die Bilder abgepaust. Viele, viele Stunden haben wir mit diesem Buch verbracht. Ich habe es vermisst.

Jahre später bezog mein Bruder mit seiner Familie ein eigenes Häuschen. Auf dem großen Speicher hat er sich eine Bibliothek eingerichtet.
"Unserem Buch geht es gut, es hat jetzt einen schönen Platz", hat er mir am Telefon erzählt.

An diesem Wochenende will mich mein Bruder besuchen.
"Bevor die Eifel zugeschneit ist." Er kommt allein. Sein erster Besuch seit der Beerdigung meines Mannes. Joachim hat sich sehr schwer getan mit Erwins Tod. Am Tag davor waren wir noch mit ihm und seiner Familie zusammen, voller Lebenslust und neuer Pläne.

Ich freue mich auf meinen Bruder. Habe sein Lieblingsgericht gekocht. Schaue alle Naslang aus dem Fenster. Ach, da ist er ja! Ein wenig befangen steigt er aus dem Auto. Herzlich begrüßen wir uns. Joachim ist mir so vertraut wie immer.

"Blumen habe ich dir keine mitgebracht. An der Tankstelle hatten sie nichts Gescheites. Aber ich habe etwas anderes." Umständlich kramt er in seiner Reisetasche.

"Du sollst doch nicht immer Kaffee mitbringen. Dein Kommen ist Geschenk genug."
"Kein Kaffee diesmal. Auch keine Zigaretten."
Endlich hat er gefunden, was er so lange gesucht hat. Schaut mich unsicher an.
"Hier, wenn du es noch willst? Es ist dein."
Joachim schenkt mir unser Märchenbuch.


                                     
 
 
 
Unterwegs

Türkismühle, 27. August 2005, 11.35 Uhr: Jetzt sitze ich im Zug. Er war pünktlich, Gott sei Dank. Dann werde ich den Anschluss in Frankfurt wohl bekommen. Die Sonne scheint. Ich fühle mich leer. Vielleicht nicht schlecht, diese Leere. Lässt Platz für Irgendetwas.

Kirn, 12.05 Uhr: Erster Stopp wegen Bauarbeiten. "Der Zug hat wenige Minuten Verspätung. Wir bitten um Ihr Verständnis". Nach fünf Minuten fahren wir weiter. Der Fahrgast neben mir äußert bei der Schaffnerin Bedenken wegen der Verbindung in Frankfurt. Er wird in Kassel erwartet.

12.40 Uhr: Die Felsen vor Bad Münster am Stein. Immer wieder imponierend. Grau-rot, steil, majestätisch. Die Ebernburg. Dort werde ich demnächst ein Seminar besuchen. "Wie schreibe ich einen Krimi". Ein Seminar voller Fragezeichen. Ob ich mich jemals an einem Krimi versuchen werde?

12.45 Uhr: "Nächster Halt - Bad Kreuznach". Und ich bleibe sitzen. Ein seltsames Gefühl. Schließlich ist diese Stadt seit achtzehn Monaten regelmäßig mein Reiseziel. Die Brombeeren am Bahndamm entlang sind vertrocknet. Es geht weiter, an einem riesigen Media-Markt vorbei. Das Nahetal wird weit und offen. Straßenkreuze. Autobahnen. Die Weinberge weit nach hinten gerückt. Ich glaube, die junge Dame, die mir gegenüber Platz genommen hat, arbeitet bei der Lufthansa. Gelber Schal, schick gebunden, Lufthansa-Farbe. Schwarze Bluse mit gelben Paspeln vorne. An einem Lederhalsband baumeln irgendwelche Karten. Als sie die Fahrkarte zeigt, sehe ich in ihrem Geldbeutel einen Ausweis mit dem Lufthansa-Emblem. Sie nimmt ein Buch aus ihrer Handtasche, liest versunken. Ihr Gesicht ruht. Leicht getuschte Wimpern, dezent geschminkt, gefällig frisiert. Würde gut an den Schalter eines großen Dienstleistungsunternehmen passen.

Ingelheim, 13.00 Uhr: Da fällt mir Tingely ein und das Diakonische Krankenhaus. Dort fand vor kurzem unser Studientag statt. Das Schreiben zu Tingely-Objekten hatte mir riesigen Spaß gemacht. Mainz, Hauptbahnhof: Fünfzehn Minuten Verspätung. Ich kann gerade noch ein fieses Wort unterdrücken. Dabei wollte ich hier meinen Bruder Peter in Gedanken lieb grüßen. Stattdessen versuche ich, die Schaffnerin zu erwischen. Sie muss wissen, wie ich in Frankfurt weiterkomme. Ich habe doch Zugbindung. Mainz-Süd: Hier wird gebuddelt, altes Gemäuer freigelegt. Ob es sich da um die Ausgrabungen von Römerbauten handelt, von denen ich vor kurzem gehört habe? Wir überqueren den schmutzig-gelben Rhein. Hinter den Bäumen erhebt sich eine Verschrottungsanlage. Ein schöner bunter Schrottberg. Tingely hätte seine Freude daran. Ein riesiger Parkplatz, Auto an Auto. Ein großes Werk. Opel, ah ja. "Nächster Halt - Rüsselsheim“. Klar doch.

Frankfurt-Flughafen: Die Schaffnerin war immer noch nicht da. Die junge Dame mit dem Lufthansa-Schal steigt aus. Auf der nächsten Station muss ich raus. Ich werde gleich zusammenpacken. Vielleicht hilft mir eine Hetzjagd von Gleis siebzehn nach Gleis sieben, meinen Anschlusszug zu erwischen.

14.10 Uhr: Es geht mir gut. Sitze im richtigen Zug. Mein reservierter Sitzplatz war frei. Habe gerade eine Zigarette geraucht und ein Gespräch mit meiner netten Sitznachbarin geführt. Jetzt fühle ich mich, als ginge es ab in Urlaub.

14.25 Uhr: Habe mit Erfolg mein neues Handy ausprobiert: eingeschaltet, frei geschaltet, SMS empfangen und geantwortet. Wow! Danach mit Marion telefoniert - das kann ich ja schon länger - und grünes Licht für heute Abend gegeben. Handy dann ausgeschaltet. Schließlich habe ich Urlaub, das heißt: kein Telefon! Hannover, 16.16 Uhr: Meine Nachbarin ist ausgestiegen. Eine allein stehende Oma, wie ich. War auf Rundreise zu ihren Enkeln und freut sich jetzt auf ihr ruhiges Zuhause. Eine Sitzgruppe weiter haben sich vier junge Frauen niedergelassen: schnatter, schnatter. Sind wohl ausgebrochen aus dem trauten Heim. Jetzt werden Neuigkeiten ausgetauscht, von lebhaft laut bis verschämt leise. "Das finde ich gut. Super. Das ist toll" klingt es bis zu mir. Was die Vier wohl vorhaben? Gegenüber am Fenster eine Dame, vielleicht vierzig Jahre alt, blond, sehr gut gekleidet, schwarz-weiß, Perlenkette, passende Ohrringe, fühlt sich durch das lebhafte Gespräch der Frauenrunde gestört. Runzelt die Stirn hinter der Brille. Wirft ab und zu einen bösen Blick von ihrem Buch in Richtung Nebentisch. Vielleicht ist sie nur neidisch? Jetzt hat sie Buch und Brille weggesteckt. Schaut vorwurfsvoll nach links, dann gelangweilt aus dem Fenster.

16.45 Uhr: Wir fahren über flaches Land. Der Himmel ist blau, mit Schäfchenwolken. Die Sonne lacht in unser Abteil. Wie die Woche Urlaub mit den Kindern wohl wird? Habe ich nie gewollt, ihnen im Urlaub auf die Nerven gehen. Diese Zeit sollte ihnen allein gehören. "Mutti, das haben wir durchgesprochen. Ist in Ordnung." Für Marion ist alles so einfach. Nein, so ist es nicht richtig. Sie weiß, dass ich Urlaub und Tapetenwechsel brauche, die Nordsee liebe und mich allein nicht überwinden kann. "Wir haben noch ein Zimmerchen in unserem Ferienhaus frei", sagte sie am Telefon. "Komme doch nach, eine Woche Urlaub bekommst du bestimmt auch in der Ferienzeit." Mein Chef war einverstanden. Da habe ich alle Bedenken weggewischt und diesen Zug gebucht.

Der Herr im Nadelstreifenanzug auf der anderen Seite des Ganges hat das Abteil verlassen. Hat bis gerade im ADAC-Prospekt über Hamburg gelesen. Ist wohl sein Reiseziel. Seine schmale Aktentasche steht verloren auf dem Sitz mit Fensterplatz.

17.15 Uhr: Es wird frisch im Abteil. Der Himmel hat sich zugezogen. Wir haben Lüneburg passiert. Die Frauenrunde schnattert. Die Blonde wirkt immer noch nicht entspannt. Trotz Zigarette, die sie gerade ausgedrückt hat. Der Herr im Nadelstreifenanzug hat die Tageszeitung weggelegt. Die Brünette ihm gegenüber liest gelassen in ihrem Buch, seit Frankfurt.

17.30 Uhr: Hamburg, das Tor zur Welt. Wir fahren gerade über die Elbe. Im Hintergrund: Lagerhallen, Container, Kräne. So kenne ich Hamburg von meinem früheren Job her. Die Schnattertischrunde löst sich auf. Die Blonde steigt auch aus. Der Nadelstreifenanzug sagt höflich auf Wiedersehen. Hamburg Hauptbahnhof. Es grüßt Saturn. Die Brünette zieht ihren Mantel an. Dann sind wir nur noch zwei im Großraumabteil: Eine Dame in meinem Alter, die ich bis jetzt noch nicht wahrgenommen hatte, und ich. Wir steigen gemeinsam in Altona aus. Sie ist am Ziel. Zurück von einer Beerdigung in Saarbrücken.

18.30 Uhr: So liebe ich Aufenthalte auf dem Bahnhof: Zeit für eine Tasse Kaffe und etwas frisch Gebackenes für den kleinen Hunger. Jetzt sitze ich im Zug, letzte Etappe. Habe Raucherabteil gesucht und gefunden. Und was für eins! "Du hast die Haare schön" tönt es laut aus dem Recorder eines jungen Fahrgastes, unter beifälligem Mitgesang einer Gruppe Jugendlicher. Ringsum: Alsterwasser, Flensburger, Dosenbier. Hat vielleicht der HSV gespielt? Er hat! Eins zu eins, jetzt weiß ich es. Ein Fanclub in HSV-T-Shirts und Jacken steigt zu. Wird bestimmt eine interessante Fahrt! Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich die beiden jungen Mädchen mir gegenüber genervt fühlen. Ihre Bemerkungen fallen unmutig in Richtung Fanclub. Dort kreist mittlerweile die Schnapsflasche. Prost, auf den HSV. Marion brauche ich nicht anzurufen. Sie würde kein Wort verstehen. Nebenan sitzt eine Negerin. Sie hat ihren kleinen Sohn dabei. Die junge Frau ist einfach schön. Ich kann Erwin verstehen. Er hatte früher einmal eine Freundin aus Afrika, eine Medizinstudentin. Sie sind auseinander gegangen, sahen keine Perspektive für eine gemeinsame Zukunft. Wie wäre das heute? Ist die Welt wirklich toleranter geworden?

19.10 Uhr: Der Fan-Club hat auf Sirtaki umgestellt. Verstehe ich nicht. Gerade drängt eine Schulklasse durch unser Abteil. Einige der Schüler bleiben stehen, machen bei uns Raucherpause. Sie waren auf Klassenfahrt am Bodensee. Freuen sich, dass sie wieder den Rundblick haben, ohne Berge.

Itzehoe, 19.15 Uhr: Schade. Die zwei Mädchen, mit denen ich mich richtig gut unterhalten habe, sind ausgestiegen. Auf ihren Plätzen sitzen jetzt drei Fans.

19.30 Uhr: Nun weiß ich es: Der Sirtaki gehört zur HSV-Hymne. Die wurde gerade gegrölt. Der kleine Negerjunge findet das Lied nicht so gut, hat sich die Ohren zugehalten. Den anschließenden Sirtaki hat er mit blitzenden Augen mitgeklatscht. Ist nicht einmal aus dem Takt gekommen. Ein kleines Stück Afrika bei uns im Zug. Draußen dehnt sich Nordfriesland. Wir überqueren den Nord-Ostsee-Kanal. Der kleine Negerjunge kommt aus Freiburg. Hat er dem Fan mir gegenüber gesagt. Der findet das imponierend. Ich habe ihm erklärt, wo Freiburg liegt.

Heide, 20.03 Uhr: Es ist ruhiger im Zug geworden. Der Junge mit dem Recorder ist ausgestiegen. Die Fans mir gegenüber telefonieren mit Papa. Würden gern am Bahnhof abgeholt werden.

20.30 Uhr: Husum, graue Stadt am Meer. Es wird langsam dunkler. Vom Wasser her ziehen Wolken auf. So kenne ich es von früheren Besuchen. Nordfriesland war lange Jahre unser bevorzugtes Urlaubsziel. Im Abteil geht es jetzt gesittet zu. Alle Fans sind weg. Die schöne Negerin stammt aus Togo. Fährt wie ich bis Niebüll, möchte einige Tage bei ihrem Bruder verbringen. Zwanzig Minuten noch, dann ist die Zugfahrt zu Ende. Ich kenne die Strecke gut. Bin sie zuletzt mit Erwin gefahren. Als wir Urlaub auf Sylt gemacht hatten. Kurz bevor er für immer gegangen ist. Hier hat sich nicht viel verändert. Windräder, Kanäle, Deiche, grüne Wiesen, friedlich grasende Schafe, wie damals. Bilder tauchen auf. Erinnerungen. Es tut überhaupt nicht weh.


                                     
 
 
 
Unverhoffter Besuch

Irgendwo in unserem Dorf hatte die Hausfrau gerade den Abendbrottisch abgeräumt. Es war der 6. Dezember. Ihre Gedanken wanderten wehmütig in die Zeit, als ihre Kinder noch klein waren und sehnsüchtig auf den Nikolaus warteten. Und noch weiter zurück, als sie mit ihren Brüdern ausharrte. Mein Gott, hatten die Buben eine Angst, dass der Knecht Ruprecht mitkäme. Der zarte Klang eines Glöckchens holte sie aus den Erinnerungen zurück. Hatte sie geträumt? Nein, Stimmengemurmel, knirschende Schritte im Schnee und Nikolausgesang näherten sich dem Haus. Einem Augenblick der Stille folgte Sturmgeläut an der Haustür.

Anna öffnete erstaunt die Tür. Draußen stand der Heilige Mann, wild fuchtelnd mit einer Rute. Er drückte sie einfach zur Seite und schritt an ihr vorbei, als ob er sich in diesem Haus auskennen würde. Sein Weg führte schnurstraks in Opas Zimmer. Irritiert schaute sie ihm nach und wollte schon die Haustür schließen. Da sah sie noch zwei Männer stehen, er hatte sich wohl Knechte mitgebracht. Sie trippelten unruhig von einem Bein auf das andere und stammelten Entschuldigungen. Anna kannte sie: ehemalige Schulfreunde. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie irgendwann einmal in diesem Haus waren. „Kommt einfach herein“, lud sie die beiden ein. Zögernd betraten sie das Wohnzimmer, und auch der Nikolaus kam in die gute Stube gepoltert. Ihm folgte der Opa, und Annas Mann Hans wollte wissen, was da seine Sportsendung störte.

Alle setzten sich um den großen Tisch: der Nikolaus, seine beiden Begleiter, nennen wir sie einfach Peter und Paul, der Opa, Hans und Anna. Mitten auf dem Tisch stand ein Adventsgesteck, in dem Anna die dicke rote Kerze anzündete. Hans holte Bier aus dem Keller, und Anna stellte die Schnapsflasche auf den Tisch für die Wärme von Innen. Schließlich kamen die Besucher aus der Kälte, und außerdem sollte man den Nikolausabend angemessen begehen.

Sie prosteten sich zu, und dann kam das, was in diesem Haus von jeher Brauch war: Sie begannen zu singen. Zuerst vom Nikolaus, der ja Ehrentag hatte; von Weihnachten, weil es in die Zeit passte; vom kleinen Bübchen, das unbedingt ein Pferdchen wollte. Anna fühlte sich in ihre Kinder- und Jugendzeit zurückversetzt und sang kräftig mit. Und auch Hans hatte längst den Fernseher ausgeschaltet. Der Opa, ein Musiker mit Leib und Seele, holte so nach und nach das Akkordeon, die Geige und die Melodica hervor, Anna packte ihre Blockflöte aus, Hans seine Mundharmonika. Alle Instrumente kamen zum Einsatz, nicht immer schön, aber immer mit Begeisterung. Damit wir uns richtig verstehen, der Opa beherrschte alle diese Instrumente. Doch leider konnte er sie nur einzeln spielen, und da die anderen ja auch ein bisschen etwas von Musizieren verstanden, halfen sie nach besten Kräften aus. Singen und Musizieren machen durstig. Die leeren Bierflaschen häuften sich. Paul war vorsichtig. Er kippte irgendwann sein Schnapsgläschen kurzerhand und natürlich völlig diskret in das Weihnachtsgesteck, vermutete er doch darunter ein Gefäß. Es dauerte nicht lange, und alle konnten den Weg des edlen Gesöffs auf der Tischplatte verfolgen. Das Gelächter war groß, die Röte in Pauls Gesicht auch.

Der Geselligkeit tat das keinen Abbruch. Sie hatten das Liedgut mittlerweile auf Europa-Ebene ausgedehnt und sangen von Plaisir d`amour in der blauen Nacht am Hafen, den zwölf Räubern und dem armen Soldaten am Wolgastrand, der Barcarole und wie schön es in Kufstein ist. Paul zwitscherte nicht nur die Lieder mit, sondern auch das Schnapsglas von Peter leer. Der protestierte lautstark und wollte – wie in gewohnter Kneipenmanier – seinen Deckel bezahlen und gehen und schaute recht erstaunt, als Anna ihn auslachte: „Nicht nötig, in dieser Kneipe gibt es alles kostenlos!“

Nach Hause wollte aber noch niemand. Es störte auch keinen, dass der Nikolaus sein Akkordeonspiel infolge Kraftlosigkeit auf Begleitakkorde umgestellt hatte. Der Opa zeigte keinerlei Ausfallerscheinungen. In einer – kleinen – Besinnungspause blitzten auf einmal seine Augen, er ergriff die Geige, ja, und dann legte er eine Zigeunerweise hin, die alle vom Stuhl riss. Lebenslust und Freude pur brachen durch, als hätten sie nur auf diesen Augenblick gewartet. Rheuma und Gicht waren vergessen. Anna hätte sich eher die Zunge abgebissen, als ihn daran zu erinnern und an die Schmerzen, die er am anderen Tag ganz sicher haben würde. „Genau wie früher“, schoss ihr durch den Kopf, und sie genoss den Augenblick.

Die Stunden verflogen. Als die Uhrzeiger auf Mitternacht rückten, entschlossen sie sich schweren Herzens, den Abend zu beenden. Schließlich mussten Peter und Paul am nächsten Tag zur Arbeit. Zum Abschied sangen sie gemeinsam - der Weihnachtszeit angemessen – „Stille Nacht, heilige Nacht“, mit Mundharmonika- und Violinbegleitung. Zum endgültigen Abschied ließen sie noch einmal beeindruckend gefühlvoll das Lieblingslied von Opa erklingen: „Auf Wiedersehen, ihr Freunde mein“. Dann gingen die Besucher wirklich.

Einige Jahre sind seither ins Land gezogen. Die Erinnerung ist wach geblieben und zaubert noch immer ein „Weißt du noch?“ und ein Lächeln hervor.


                                     
 
 
 
Heiß und kalt

Anna ging über den Bahnhofsvorplatz in Saarbrücken. Ihre Laune passte zu dem sonnigen Sommertag. War eine gute Idee, einen Zug früher als geplant zu nehmen, dachte sie, während sie sich nach einem freien Sitzplatz umschaute. Sie liebte Bahnhöfe und Bahnhofsvorplätze mit ihrer Geschäftigkeit und dem Flair von Reisen in die große weite Welt. Eine halbe Stunde blieb ihr, um das Treiben zu beobachten. Dann würde ihre Freundin ankommen, mit der sie den Nachmittag verbringen wollte. Sie freute sich auf einen gemütlichen Stadtbummel, eine genüssliche Kaffeepause auf dem St. Johanner Markt und die Lesung am Abend.

Plötzlich bremste ein kleiner Junge mit dem Tretroller neben ihr und sprach sie an: „Haben Sie vielleicht fünf Euro für mich?“
Upps, dachte sie, ein kleiner Bettler? Hat ihn jemand auf Tour geschickt? Sie schaute sich um. Keiner beobachtete die Szene, der Junge schien allein zu sein. Er wirkte auch ganz normal, nicht abgerissen oder verwahrlost, trug saubere Kleidung: kurze Hose, T-Shirt, Turnschuhe. „Wofür brauchst du das Geld?“
„Das kostet die Fahrkarte nach Pirmasens.“
„Was willst du denn in Pirmasens?“
„Dort wohne ich doch. Meine Mama holt mich am Bahnhof ab.“
„Was machst du hier?“
„Ich war bei meinem Freund. Seit der Schule gestern. Ich habe bei ihm geschlafen.“
„Und wie seid ihr da gefahren?“
„Mit einer Tageskarte. Aber die gilt heute ja nicht mehr.“
„Wo hast du denn dein Gepäck?“
„Was für Gepäck?“
„Deine Schultasche zum Beispiel.“
„Die ist bei meinem Freund. Die Sachen, die ich anhabe, sind auch von meinem Freund.“ Dann erzählte er vom Umzug und dass er sich gefreut hatte, bei dem Freund in Scheidt zu sein. Neun Jahre alt sei er. Es klang alles so glaubwürdig. Und doch … Und wo – um Himmelswillen – liegt Scheidt genau?
„Ich bezahle dir die Fahrkarte“, sagte Anna kurz entschlossen und wollte ihr Handy aus der Tasche ziehen. „Zuerst rufen wir deine Mama an.“
„Geht nicht, ich weiß die Telefonnummer nicht mehr.“
„Hast du keinen Zettel in der Tasche?“
Er schüttelte den Kopf.
„Komm mit, wir gehen rein“, ermunterte Anna den Kleinen und dachte, dass es ihm wirklich um die Heimfahrt und nicht um eine Geldgabe geht, wenn er ihr jetzt folgt. Gemeinsam betraten sie das Bahnhofsgebäude. Den Roller schob er neben sich her. Zeigte auf die Anzeigetafel:
„Da steht es: 16.07 Uhr Abfahrt nach Pirmasens.“
Er kannte sich aus. Doch Anna hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Kann sie ihn einfach in einen Zug setzen? Da, der Sicherheitsbeamte von der DB. Sie wollte mit ihm reden.
„Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, ich habe da ein Problem.“ Dann erklärte sie dem aufmerksamen Herrn, dass sie zwar die Fahrkarte für den Kleinen kaufen wollte, dass ihr die Angelegenheit aber sehr dubios erschien.
„Das geht auch nicht einfach so“, antwortete der Beamte. „Wir dürfen ihn nicht ohne weiteres in den Zug setzen, aus versicherungstechnischen Gründen schon nicht. Außerdem muss geprüft werden, ob er nicht irgendwo abgängig gemeldet ist. Na“, wandte er sich dann an den Kleinen.
„Bist du irgendwo ausgebüchst?“ Empört schüttelte der Junge den Kopf.
„Wir müssen die Sache bei der Bundespolizei prüfen lassen“, bestimmte der Beamte. Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Jungen. Ob er doch abgehauen war?
„Keine Angst“, beruhigte Anna ihn. „Dir passiert nichts.“ Dann folgten sie dem Sicherheitsbeamten in das angrenzende Gebäude, gingen durch einen endlos langen Flur, bis der Beamte an eine Tür klopfte. Ein freundlicher Herr begrüßte sie. Anna erklärte die Situation.
„Wir kümmern uns darum.“
Sollte das eine Verabschiedung sein? Anna wartete ab, verfolgte die Fragen und Antworten. Der Beamte ging Vertrauen erweckend mit dem Kleinen um. Präzise dessen Angaben, stimmig mit seinen früheren Aussagen. Nein, im Telefonbuch sei die Nummer von Zuhause nicht zu finden. Kein Eintrag.
„Was geschieht jetzt mit ihm?“ wollte Anna wissen.
„Einfach in den Zug setzen, das geht nicht. Er bleibt hier. Wir sprechen mit der Polizei in Pirmasens. Die Eltern werden verständigt und müssen ihn abholen.“
Anna nickte, wusste den Kleinen in guten Händen. Sagte endlich „Auf Wiedersehen“. Wandte sich noch einmal an den Jungen:
„Es war richtig, dass du mich angesprochen hast.“

Ungute Gedanken bestürmten sie auf dem Weg durch den langen Flur. An einem Fenster verweilte sie, zog den Städteatlas aus der Tasche. Was macht der Kleine hier in Saarbrücken, wenn er doch von Scheidt nach Pirmasens, also entgegen gesetzt, fahren müsste? Wie ist er überhaupt von Scheidt hierhin gekommen, ohne Geld, nur mit seinem Roller? Nicht einmal einen Zettel mit der Telefonnummer seiner Eltern hatte er dabei. Ihre Kinder durften auch gelegentlich bei Freunden übernachten. Doch stets blieb die Verbindung zum Elternhaus bestehen, sie hatten die Telefonnummer, und Hin- und Rückfahrten waren immer gesichert. Wie schnell könnte den Kindern etwas passieren. Der kleine Junge hier war sich keiner Gefahr bewusst! Er war erst neun Jahre alt! Hoffentlich geht die Sache gut für ihn aus.

Strahlender Sonnenschein empfing Anna auf dem Bahnhofsvorplatz. Gleich müsste ihre Freundin ankommen. Annas Vorfreude auf einen lockeren Bummel war getrübt. Sie fror.